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Wenn Singen gegen den Schrecken hilft

Erstellt von Anke von Legat am in Kategorie: Chor

In der Zeitung "Unsere Kirche" erschien am 1.Oktober ein Artikel über unseren Chor der ukrainischen Schülerinnen und Schüler.

Wie ein Schulchor ukrainischen Jugendlichen Selbstvertrauen gibt – und nebenher beim Deutschlernen hilft

Am evangelischen Söderblom-Gymnasium in Espelkamp gibt es einen besonderen Chor. Hier singen Jugendliche, die aus der Ukraine
fliehen mussten. Die Idee dazu entwickelte sich in den Deutschlern-Klassen, und Deutschlehrerin Hedda Schoof ist gleichzeitig Chorleiterin.

Ein Artikel von Anke von Legat, erschienen in “Unsere Kirche” am 01.10.2023.

„Erst mal was fürs Zwerchfell: p,t,k“, ruft Hedda Schoof und stößt die Laute heftig aus dem Bauch heraus. „Was heißt Zwerchfell auf Ukrainisch? diafragma, genau. Das müsst ihr jetzt anspannen.“ 20 Jungen und Mädchen stehen vor ihr in der Aula des Söderblom-Gymnasiums in Espelkamp und geben sich Mühe, ihren Anweisungen zu folgen. Es ist Mittag, 13 Uhr. Die Jugendlichen haben schon einen ganzen Schultag hinter sich; manche gähnen verstohlen. Trotzdem bleiben sie eine zusätzliche Stunde, um mit Hedda Schoof zu singen.
Warum?

Alle, die hier stehen, teilen ein ähnliches Schicksal: Sie wurden durch den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine gezwungen, ihr Land zu
verlassen. Manche von ihnen sind schon gleich nach Kriegsbeginn im Februar 2022 nach Deutschland geflohen, andere erst vor einigen
Monaten. Alle besuchen die Deutschlern-Klassen am Söderblom-Gymnasium, eingeteilt in drei Niveaus. Hedda Schoof ist ihre Lehrerin.
Eine Stunde Deutschunterricht haben sie am Tag; für eine eigene internationale Klasse, in der auf die Sprachkenntnisse der Schülerinnen
und Schüler Rücksicht genommen werden könnte, fehle es schlicht an Personal, wie Marie-Luise Schellong, die Schulleiterin des evangelischen Gymnasiums, erklärt. So müssen die ukrainischen Jugendlichen in den anderen Schulstunden versuchen, den Fächern auf Deutsch zu folgen, so
gut es eben geht. Manchmal hilft immerhin die Übersetzungs-App auf dem Smartphone. „Schon im Deutschunterricht haben wir viel gesungen“, erzählt Hedda Schoof – einfache Lieder, damit die Schülerinnen und Schüler sich deutsche Vokabeln leichter einprägen. „Ab und zu habe ich nach den ukrainischen Wörtern gefragt, und dann haben wir es zweisprachig versucht.“ Später kamen auch ukrainische Lieder dazu, die die Jugendlichen kannten – und die Lehrerin entdeckte nach und nach die ermutigende Wirkung des Gesangs: „Wenn jemand etwas Schlimmes erzählt, verstummen die anderen. Manchmal singen wir dann“, erzählt sie. Das gleiche gilt, wenn die Sirenen heulen, denn das verbinden viele der Mädchen und Jungen mit traumatischen Erlebnissen im Krieg. Dann singen sie besonders laut.

Hedda Schoof ist erst seit Mai 2022 am Söderblom-Gymnasium, wo sie von Anfang an für die „DaZ“-Klassen zuständig war – „DaZ“ steht
für „Deutsch als Zweitsprache“. Für den Unterricht wie für den Chor ist es hilfreich, dass sie auch Russisch studiert hat, eine Sprache, die alle
ihrer Schülerinnen und Schüler verstehen oder selbst sprechen. Die Stunden bei ihr, in der die ukrainischen Jugendlichen unter sich sind, sind besonders, das lässt sich aus der engagierten Schilderung der 30-Jährigen heraushören. Für die Jugendlichen wie für ihre Eltern ist sie nicht nur Lehrerin, sondern auch Ansprechpartnerin bei Sorgen und Problemen. Seit einiger Zeit wird sie von Nataliia Chuiko unterstützt, die selbst aus der Ukraine stammt und den Schülerinnen und Schüler als Integrationskraft zur Seite steht. Allmählich kam der Wunsch auf,
gemeinsam noch mehr Musik zu machen. Hedda Schoof gründete den Chor, in dem etwa 30 ukrainische Jugendliche aus den Klassen
5-10 mitsingen. Immer dienstags treffen sie sich für eine Stunde nach dem Unterricht in der Aula. Sie haben sich selbst ein Motto gegeben, das auf Ukrainisch auf ihren Chor-Shirts abgedruckt ist: „Frei und unzerstörbar“ lautet die deutsche Übersetzung. Eingeübt werden die Melodien
ohne Noten, nur nach dem Gehör. Schoof lernte dafür extra, die Lieder auf dem Klavier zu begleiten. Gerade wird der Gospel-Song „Awesom God“ – „Wunderbarer Gott“ geprobt.

„Unser Gott ist ein wunderbarer Gott“, singen die Schülerinnen und Schüler, „er regiert über uns mit Weisheit, Macht und Liebe.“ Englische
Strophen wechseln sich mit ukrainischen ab. Der Klang ist erstaunlich voll, auch wenn ab und an ein Stimmbruch-Kickser zu hören ist. Fast alle der Jugendlichen, das erzählen sie später, waren in der Ukraine bereits in einem Chor, entweder in der staatlichen musikalischen
Musikschule oder in einer Kirchengemeinde.
Auch beim Lied „Die Gedanken sind frei“, das zweistimmig gesungen wird, entwickelt der Chor einen kräftigen Sound. Die meisten können den Text bereits auswendig, und die deutschen Worte sind deutlich zu verstehen, fast akzentfrei. Die Jugendlichen singen voller Überzeugung, und die Gesten, die den Text begleiten, führen sie eindrücklich vor: gekreuzte Fäuste bei der Zeile vom Einsperren im „finsteren Keller“; auseinanderfliegende Arme bei den Worten „denn meine Gedanken zerreißen die Schranken und Mauern entzwei“. „Die Lieder müssen etwas mit uns zu tun haben“ – das haben die ukrainischen Schülerinnen und Schüler sich gewünscht, erzählt Hedda Schoof.

Ist das Singen im Chor also so etwas wie eine Therapie? So möchte die Lehrerin das nicht nennen – „das würde ich mir nicht anmaßen.
Aber es ist auf jeden Fall identitätsstiftend. Und es tut uns gut!“ Auch Schulleiterin Marie-Luise Schellong unterstreicht die positive Wirkung, die das gemeinsame Singen für die ukrainischen Jugendlichen hat. Sie würden dadurch an der Schule als Gruppe hörbar und sichtbar und mit ihren
Stärken wahrgenommen. Damit wiesen sie auch immer wieder auf die andauernde Gewalt durch den russischen Krieg in ihrem Heimatland
hin – kürzlich erst wieder bei einem Auftritt im Eröffnungsgottesdienst der Tagung des evangelischen Schulbundes Nord. „Der Chor ist eine Bereicherung für das Schulleben“, sagt Schellong. Die Probe ist vorbei, die meisten packen ihre Sachen und ziehen Richtung Busbahnhof. Anna,
Nadiia, Anastasiia, David und Jehor bleiben noch, um ein bisschen von ihren Erfahrungen in Deutschland zu erzählen. Ihre Herkunftsstädte
sind über die ganze Ukraine verstreut und beim Aufschreiben legen sie großen Wert auf die ukrainische Schreibweise: Cherson und Kyyiw, Lutsk, Charkiw, Riwne. Wie ist das, wenn man ganz fremd in eine neue Schule kommt, in der man kein Wort versteht?

Viel Stress“, sagt David. „Am Anfang sehr schwer“, stimmt Nadiia zu. Inzwischen gehe es aber besser, und deutsche Freundinnen habe
sie auch schon gefunden, in der Schule und der Nachbarschaft. Auch das Singen im Chor hilft beim Deutschlernen, findet Anna, vor allem bei der Aussprache. Aber das, was wirklich voranbringt, ist der Deutschunterricht bei Hedda Schoof, da sind sich alle fünf einig. Und der Blick in die Zukunft – möchten sie weiter hier zur Schule gehen, vielleicht sogar Abitur machen? „Ja!“, sagt Anastasiia mit Nachdruck, und auch Nadiia und
Anna nicken. Aber David widerspricht energisch. „Nein!“ Er, so erklärt er, wolle einfach nur so schnell wie möglich in die Ukraine zurück.