Deutschland blickt auf Espelkamp
Es ist Montagmorgen, 9.30 Uhr. Reformationstag. Eigentlich verirrt sich um diese Zeit kein Gottesdienstbesucher in die Thomaskirche. Doch am 31. Oktober 2011 ist alles anders. Das Fernsehen ist da. Unübersehbar. Mit vier großen beweglichen Kameras, einem mitunter heftig gestikulierenden Aufnahmeleiter in Höhe der Orgel und jede Menge Kabel und große Scheinwerfer, die am Fenster befestigt sind und heftig blenden. Am 31. Oktober 2011 ist die Kirche voll – auch am Montagmorgen am Reformationstag.
Gerd Höft, seit 1992 evangelischer Rundfunkbeauftragter beim WDR, hat in der halben Stunde bis Sendebeginn um 10 Uhr noch viel zu tun. „Sie da hinten, kommen Sie doch nach vorne, hier sind noch einige Plätze frei. Das sieht nachher nicht gut aus.“ Eine ältere Frau: „Da kann ich ja auch besser sehen“. Sie tut, wie ihr geheißen. Acht Männer und Frauen trauen sich ebenfalls.
9.40 Uhr beginnt das volle Geläut. „Hoffentlich können Sie mich verstehen. Ich muss noch ein paar wichtige Dinge ansagen.“ Er ist der Profi in Sachen „Warming Up“. Ein paar flotte Sprüche und er hat die Lacher auf seiner Seite. Espelkamps Gemeinde entspannt sich. „Sie erleben jetzt einen Gottesdienst, der völlig anders ist, als sie es gewohnt sind“, bereitet er die Gläubigen vor. „Es ist viel Bandmusik vorhanden, vorne gibt es Spielszenen, es kommt kein Pfarrer, sie müssen viel singen.“
Und noch etwas ganz Wichtiges: „Stellen Sie die Handies aus.“ Höft wird direkt: „Bis um eine Minute vor 10 Uhr können Sie noch so viel reden mit ihrem Nachbarn wie sie wollen. Aber um eine Minute vor 10 muss es mucksmäuschenstill sein. Ich will auch keinen Huster mehr haben.“ Um eine Minute vor zehn ist noch ein einsamer Handy-Trailer in irgendeiner Tasche zu hören. Dann ist es still.
Um zehn Sekunden nach 10 Uhr bekommt Roger Bretthauer ein Zeichen vom Sendeleiter: Der Kantor beginnt zu spielen. Ab jetzt blickt ganz Deutschland auf Espelkamp.
Die Gemeinde bleibt ganz ruhig. keiner traut sich noch ein Wort zu sagen. Alles blickt gebannt nach vorne, hört dem Spiel von Band und Chor und vom Kantor zu. Lässt sich ein auf die Spielszenen, die Begegnung der Jugendlichen mit Luther und singt artig die auf dem Liedzettel aufgeführten Lieder mit.
Erst beim Schlusslied „Angenommen – angekommen bei Gott“ tauen die ersten auf. Sie klatschen mit. Und als die Lichter der Kameras wieder aus sind brandet erlösendes Klatschen und Jubel in der Thomaskirche auf.
Doch jetzt gibt’s noch eine Überraschung. Gerd Höft ist mit dem letzten Bild aus der Thomaskirche in den Ruhestand getreten. Und das ist sowohl dem WDR wie der Martinsgemeinde eine kleine Ehrung wert. Band, Chor und Gemeinde singen ihm ein Abschiedslied.
Neue Westfälische vom 1. November 2011